„Ein EU-Huhn ist in Afrika billiger als ein lokales Huhn“

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gilt die Kolonialzeit in Afrika weitgehend als beendet. Doch auch heute noch zeigen sich auf dem Kontinent Formen von politischer oder wirtschaftlicher Kontrolle durch europäische und westliche Staaten. Historiker Andreas Eckert erklärt im Interview mit Ludmilla Ostermann, wie sich die Strukturen im Neokolonialismus fortsetzen und warum der Rohstoffabbau einer der treibenden Kräfte dabei ist. Der Wissenschaftler sieht aber auch eine neue Generation junger Afrikaner, die westlichen Ländern selbstbewusst gegenübertritt.

Wie definieren Sie den Begriff "Neokolonialismus"? Und wie unterscheidet er sich vom Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts?

Andreas Eckert: Neokolonialismus ist ein politischer Kampfbegriff aus den 60er und 70er Jahren. Er beschreibt die Strukturen kolonialer Herrschaft, die weiter bestehen, obwohl die europäische Kolonialherrschaft formal beendet ist. Im Unterschied zum früheren Kolonialismus sind die Länder Europas etwa nicht mehr direkt in der Regierung und Verwaltung der ehemaligen Kolonien involviert. Aber sie üben weiterhin Einfluss auf die Wirtschafts- und Strategiepolitik aus. Ein Beispiel hierfür ist die Rolle Frankreichs in Niger. Es mischt sich politisch ein und zeigt auch militärische Präsenz. Nach einem Putsch im Sommer 2023 hat dort eine Militärregierung die Macht übernommen, die die Interessenspolitik Frankreichs nicht mehr hinnehmen will.

Welche Interessen hat Frankreich in Niger?

Eckert: Aus wirtschaftlicher Sicht geht es Frankreich etwa um Uranminen, die mithilfe französischer Firmen ausgebeutet werden. 2022 war Niger der sechstgrößte Uranproduzent der Welt. Die Förderung ist weitgehend in französischer Hand. Wenn Minen geschlossen werden, bleibt Niger auf den Altlasten des Abbaus sitzen. Das hat ökologische und gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung. Niger ist aber auch strategisch interessant. Es war bis zum Putsch eine Bastion gegen islamistische Kräfte, die sich in der Sahelzone verbreitet hatten. Der entmachtete Präsident Mohamed Bazoum hat sich als Staatsführer verstanden, die die Interessen des Westens vertrat. Nicht zuletzt ging es Frankreich um die Flüchtlingsfrage. Niger ist ein wichtiges Transitland für Flüchtlinge und Migranten aus West- und Zentralafrika und hatte auf der Grundlage von Vereinbarungen mit der EU die Weiterreise dieser Menschen blockiert. Solche Deals laufen auch mit anderen Ländern und werden sogar mit EU-Geldern gefördert. Frankreich war häufig der Bulldozer, der diese Arbeit stellvertretend übernommen hatte und so die alte Weltmachtrolle fortgeführt hat.

Der Gewinn ist sehr ungleich verteilt.

Andreas Eckert

Neokolonialismus zeigt sich heute also vor allem in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen.

Eckert: Ja, es bestehen weiterhin koloniale Strukturen im Handel und in der Wirtschaft. Afrika liefert nach wie vor Rohstoffe, von denen jedoch hauptsächlich Unternehmen aus den ehemaligen Kolonialmächten profitieren. Das ist eine ganz klassische Konstellation der Kolonialzeit: Europa hatte großes Interesse an Rohstoffen, aber wenig Interesse daran, die einheimische Bevölkerung daran teilhaben zu lassen. Neben diesem Rohstoffabbau herrschen aber auch noch Ideologien, Rassismus und hierarchisches Denken vor: Afrika als Kontinent des Hungers, der Korruption, der Gewalt. Diese kolonialen Tropen- und Afrikabilder prägen bis heute die Darstellung des Kontinents.

Haben Sie weitere Beispiele für die westliche Praxis des Extraktivismus – die Ausbeutung und den Export von Rohstoffen ohne Rücksicht auf ökologische und soziale Auswirkungen?

Eckert: Im Senegal wurden vor der Küste neue Ölvorkommen entdeckt, ein wertvoller Rohstoff. Der französische Konzern Total ist ohnehin sehr aktiv in diesem Bereich, macht große Gewinne und will auch in diesem Jahr mit der Ölförderung im Senegal beginnen. Das große Problem ist, dass diese Art von Rohstoffabbau im Vergleich zum Abbau in Minen nur wenige Arbeitsplätze schafft. Man braucht nur ein paar Spezialist*innen, die meistens aus Europa stammen. Die Firmen machen große Gewinne, wovon ein bisschen in die Staatskasse geht. Aber der Gewinn ist sehr ungleich verteilt. Letztlich profitieren die Firmen. Dasselbe gilt für die großen Erdgasvorkommen Afrikas, die seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine besonders interessant sind. Auch diese Förderung wird über europäische oder mittlerweile auch chinesische Firmen gemanagt. Sie kassieren Gewinne und hinterlassen Umweltverschmutzungen vor Ort. Viele afrikanische Länder sind bei den Chinesen hoch verschuldet, denn Chinas Kreditangebote an afrikanische Länder sind häufig teurer als ähnliche Angebote aus dem Westen, aber nicht an politische Konditionen gebunden. Ungleichheit herrscht auch bei den Handelsregulierungen. Ein subventioniertes EU-Huhn ist in Afrika billiger zu haben als ein lokales Huhn. Hier setzen sich koloniale Strukturen fort. Gegen diese Schieflage will die neue Regierung im Senegal angehen.

Es gibt also Stellschrauben, um gegen diese neokolonialistischen Strukturen vorzugehen?

Eckert: Wir müssen uns allerdings bewusst darüber sein, dass es sich nicht nur um bilaterale Verbindungen handelt, sondern ein Teil der globalen Ökonomie darauf aufgebaut ist. Da bedarf es schon eines großen Hammers, um die Strukturen aufzubrechen und grundsätzlich zu überdenken. Das kann nicht nur auf kleiner Ebene geschehen. Wenn Senegal sagt, wir machen neue Verträge, ist das ein erster Schritt. Der kann verhallen, oder aber er löst eine Art Domino-Effekt aus. Das lässt sich noch nicht sagen.

Die Entwicklungshilfe war kein Modell der Zukunft.

Andreas Eckert

Welche Rolle spielt Entwicklungspolitik in diesem Zusammenhang?

Eckert: Seit es sie gibt, wird sie immer wieder verdammt. Ein Stück weit steht sie für eine Exportförderungspolitik. Der Name des deutschen Ministeriums – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) – sagt es ja schon. Natürlich hat es für die lokale Bevölkerung einen Unterschied gemacht, ob es einen Brunnen gab oder Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen. Einzelne Projekte haben etwas bewirkt. Die grundsätzliche Idee aber ist eine koloniale Idee. Die europäischen Mächte hatten es sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel gemacht, Afrika zu modernisieren, um es besser ausbeuten zu können. Hinzu kam das Selbstbild des europäischen Altruismus. Je mehr Afrika in den 60er und 70er Jahren in der Öffentlichkeit zum Kontinent des Hungerns und Leidens wurde, desto verbreiteter wurde die christlich-kirchlich motivierte Entwicklungshilfe, die in der kolonialen Missionstätigkeit fußte. Müsste ich eine Bilanz ziehen, war die Entwicklungshilfe kein Modell der Zukunft.

Wie kann eine gerechtere Zukunft aussehen?

Eckert: Wenn wir darüber diskutieren, muss es auch darum gehen, wie Europa für die Schulden aufkommt, die es zu Zeiten des Kolonialismus gemacht hat. All die Gewinne, die auf Kosten Afrikas gemacht wurden – da stellt sich die Frage, welche Verantwortung Europa übernimmt, um Afrika zu unterstützen. Und zwar nicht in paternalistischer Form, sondern diskreter. Etwa indem afrikanische Initiativen unterstützt werden, ohne gleich mit der europäischen Fibel daherzukommen und es besser zu wissen. Ich sehe, dass diese Strukturen zu bröseln beginnen. Afrikanische Regierende gehen mittlerweile selbstbewusster gegen westliche Interessen vor. Abzuwarten bleibt, ob es gelingt, nicht nur partikulare Interessen, sondern die der breiteren Bevölkerung durchzusetzen. Wenn wir Erdgas haben wollen, müssen wir entsprechende Preise zahlen und Regierungen in Afrika müssen dafür sorgen, dass die breite Bevölkerung davon profitiert. Die neue und jüngere Generation in Afrika denkt nicht mehr so stark in den Strukturen des Neokolonialismus, beklagt aber deutlich die ungleichen Strukturen in der Weltwirtschaft.

Es bedarf angemessener Preise.

Andreas Eckert

Das war nicht immer so?

Eckert: Diese aktuellen Strukturen sind sicherlich nicht nur ein Problem böser Neokolonialisten. Auch vielen afrikanischen Regierungen ist es bisher nicht gelungen, sinnvoll in die Reichtümer der Länder zu investieren. Die erzielten Gewinne sind nur in wenige Taschen gewandert – und nicht in nachhaltige Projekte. Ausnahmen gibt es natürlich immer. Ein großes Problem ist, dass es keine Arbeit gibt. Die Bevölkerung Afrikas wird immer jünger – das Durchschnittsalter etwa in Senegal beträgt gerade einmal 19 Jahre. Die Zahl der Jobs nimmt aber nicht zu. Es gibt immer mehr gut ausgebildete Jugendliche, die keine passende Arbeit finden. Vor allem der Bereich des Rohstoffverwertung schafft keine Jobs.

Und gleichzeitig sind wir in Europa mehr denn je angewiesen auf Rohstoffe aus Afrika – für unsere Smartphones und E-Autos. Was können Verbraucher*innen tun?

Eckert: Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass ein Teil unseres Lebenswandels auf den schwierigen Lebensbedingungen von Afrikaner*innen fußt. Coltan etwa, das in der Mikroelektronik verwendet wird, wird unter gefährlichen Bedingungen abgebaut. Die staatliche Kontrolle fehlt. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Coltan und der gleichzeitigen Armut in der Bevölkerung sind die Menschen aber bereit, so zu arbeiten, um irgendwie zu profitieren. Entsprechend bedarf es auch angemessener Preise. Doch dann würden unsere Handys um ein Vielfaches teurer. Holz, Kaffee und Kakao ebenfalls. Wir kennen ja bereits fair gehandelte Schokolade aus dem Supermarkt – die kostet deutlich mehr. Es kann auch nicht sein, dass wir nun billiges Erdgas aus Afrika bekommen. Auf dem russischen Markt hatte es auch seinen Preis – politisch und ökonomisch. Wir müssen bereit sein, diesen Preis auch afrikanischen Länder zu zahlen.

Autor*in

Ludmilla Ostermann